ESSAY HEIMAT


HEIMAT IST EIN GEFÜHL UND KEINE GPS-KOORDINATEN

Die Heimat-Debatte ist also wieder eröffnet. Diesmal von der Bundesregierung mit einem Social-Media-Post von der Innen- und Heimatministerin Nancy Faeser. Sie schreibt auf Twitter: „Wir müssen den Begriff #Heimat positiv umdeuten und so definieren, dass er offen und vielfältig ist…“ 

Positiv umdeuten – wo bekommen diese Politiker in Berlin eigentlich immer diese Silberzungenteufel her, die uns wöchentlich mit neuen Marketing-Begriffen füttern. Ihre Worte haben Flügel, zumindest in zahlreichen Medien. 

„Oh Heimat, schön wie du mich anlachst. Du bist immer da, wenn ich keinen zum Reden hab‘. Oh Heimat, und wie du wieder aussiehst. Ich trag dich immer, immer bei mir. Wie'n Souvenir“, deutet Singer-Songwriter Johannes Oerding sein Heimatgefühl. 

 

Für mich ist Heimat viel mehr als ein mathematisch kühler Längen- und Breitengrad. Mehr als eine Skyline, als Burgen, Schlösser oder historische Fachwerkhäuser, die sich im regennassen Kopfsteinpflaster spiegeln. 

„Was bedeutet für mich also Heimat?“, habe ich in einem Essay in meinem Buch „Der Weg ist kein Ziel“ gefragt. 
 Für viele Menschen ist das ausschließlich ein Land, eine Region oder ein Ort, wo sie geboren wurden oder wo sie aktuell leben und die Adresse auf der Rückseite des Personalausweises mit einem behördlichen Stempel offiziell belegt ist. 

Für mich ist Heimat aber schon immer viel mehr gewesen. Heimat deute ich positiv als ein Gefühl, bei dem ich mich wohl fühle und Geborgenheit empfinde. Wo ich Liebe und Zuneigung spüre, wo Freunde und Familie mich unterstützen und ich mich bedingungslos entfalten darf. Wo ich Menschen um mich habe, die mir nicht das Blaue vom Himmel lügen. Wo es keine Fremden gibt, sondern nur Freunde, denen ich noch nicht begegnet bin. In meiner Heimat kann ich mich kreativ entwickeln und muss nicht ständig um mein eigenes Recht kämpfen. Heimat ist für mich nicht nur ein Ort mit GPS-Koordinaten, sondern ein Glücksgefühl, besonders wenn ich wieder mal nach Hause komme. Meine Heimat ist immer noch das Gefühl „Hamburg und die Elbe“. 

Am Ende des Tages bleiben für mich zwei Fragen offen: Ist es sinnvoll, das emotionale Begriffe „staatlich definiert und umgedeutet“ werden. Oder darf nicht jeder Mensch bei Worten wie Liebe, Freude oder Heimat seine eigenen Interpretationen und Theorien haben? Was mich unweigerlich zur zweiten Grundfrage führt: Prägt der Mensch seine Seele oder prägt die Seele den Menschen? Denn ein fragender Mensch ist auf dem halben Weg, weise zu sein…

ESSAY: Mit Tucholsky um den See


DIE SCHÖNSTE ZEIT DES TAGES – Mit KURT TUCHOLSKY UM DEN SEE

Ach Harburg, wie hast du dich verändert? Eine Konstante in meinem Leben war mir immer der Harburger Stadtpark mit Schulgarten, Hockey-Wiese, Badeanstalt, Freilichtbühne und natürlich dem künstlich angelegten Außenmühlenteich. Als Kind war hier, nur wenige Minuten Fußweg von unserem Haus entfernt, mein Abenteuerspielplatz. Drei Kilometer lange Sonntagsspaziergänge mit der Familie rund um den Teich. Im Winter rodeln in der Schlucht und Schlittschuhlaufen auf dem kleinen See. Frei- und Fahrtenschwimmer-Abzeichen im Freibad, mit 15 Jahren Fußball sonntags morgens auf der Elfenwiese. Später dann der beliebte „Markttag“ im Top Ten bei Marathon-Willi, der erste Kuss unter Buchen im Sommer, der erste Liebeskummer ein paar Wochen später im nasskalten Herbst. Unweit des Denkmals von Gartenkünstler Georg Hölscher.

Bei meiner kleinen Wanderung um die Außenmühle erinnere ich mich an „Kaspar Hauser“, alias Kurt Tucholsky. Der sich einmal als Journalist Gedanken über die schönste der vier Jahreszeiten gemacht hat. Für ihn war es die 5. Jahreszeit, die wenigen Tage zwischen Spätsommer und Frühherbst. 

Für mich ist die schönste Zeit am Tag der frühe Morgen, wenn die Nacht vorbei ist, wenn die Natur den Atem anhält und langsam, fast in Zeitlupe erwacht. In nur wenigen Minuten atmet sie unmerklich aus leiser wogender Brust. Bäume, Gräser, Sträucher – alles beginnt zu reifen, zu wachsen, zu blühen. Präraffaelitisch in leuchtenden und lebendigen Farben. Der neblige Grauschleier fällt wie ein Vorhang zum letzten Akt und kündigt damit den neuen Tag an.

So wie ein ganz altes Pferd, das sich müde im Stall hingelegt hat und langsam wieder zu Kräften kommt. Eine ungeheure Tätigkeit hat rings sich aufgetan. Harburg dampft vor Arbeit.

Mücken spielen im schwarz-goldenen Licht der ersten Sonnenstrahlen über den Dächern von Wilstorf. Kein Blatt bewegt sich im Wind, keine Welle zieht über die Außenmühle. Der kleine See liegt wie gemalt in der Parklandschaft. Es ist still. 

Noch zehn bis 15 Minuten, doch dann geht etwas vor. Nun ist alles anders. Das Licht ist hell, der Morgenbann ist gebrochen. Der Sommertag erwacht. Alles ist hell, blau und laut. Dystopische Gedanken schießen mir durch den Kopf. Wie viele hast du noch vor dir? Es ist die Zeit, in der ältere Herren sehr sentimental werden. Es ist vielleicht die optimistische Todesahnung, eine fröhliche Erkenntnis des Endes. 

Eine ganz kurze Spanne zwischen Nacht und Tag. Das ist für mich die schönste Zeit des Tages, die mich in meinen Wandergedanken zurückbringt in meine Kindheit.

ESSAY: DIE STÄNDIGE ANGST NERVT

DIE ANGST IST ZURÜCK

Neulich bin ich durch ein Moor gewandert. Schwarze Wolken am Himmel, abgestorbene Bäume ragen aus den Wasserflächen. Da werden meine Gedanken düster. Auf jedem Schritt lauert hier der leise Tod. Ich versinke im Moor, werde vom Sumpf nach unten gezogen und keiner hört meine Hilferufe, kann mich retten und in einigen hundert Jahren werde ich als gut konservierte Moorleiche entdeckt. Ein Albtraum. Sofort schießt mir ein „Wandergedanke“ durch den Kopf: APOCALYPSE NOW!

Denn irgendwie leben wir inzwischen ja in zwei Welten. In der einen dominiert Corona, Krieg, Inflation und die Angst vor Hungersnöten, Energie- und Rohstoffmangel. Das ist die Welt, die mir täglich von den Medien und den Politikern aufgezeigt wird: Apocalypse Now. 

Nun darf man sich keinen Illusionen hingeben: Das historische Wissen der Deutschen ist selbst in den Eliten verlorengegangen. Sie leben im Hier und Jetzt, wo die Geschichte als rhetorischer Steinbruch zur moralischen Selbstvergewisserung dient. Trotzdem, oder gerade deshalb, ist es ein interessantes Phänomen, wenn Deutschland einen anderen Umgang mit den aktuellen Krisen praktiziert als vergleichbare Länder in Europa. Wie schafft es die kleine Schweiz, bei einer Inflationsrate von 2,4 Prozent zu stagnieren, während hier unser Geld von Monat zu Monat immer weniger wert ist?  

Und nein, ich habe noch keinen Notvorrat für einen Krisenfall (Krieg) eingekauft. Kommt der, sogar von Kanzler Scholz angedeutete Atomschlag aus Russland, ist laut den Medien Hamburg in 106 Sekunden ausradiert, NRW-Städte in 112 und London in 200 Sekunden. Da kann ich nicht einmal mehr eine „letzte Zigarette“ rauchen.

Die andere Welt ist mehr Realität und weniger Horrorfilm. So wie hier im Moor. Denn das ist auch viel mehr als Gruseln und Torfstechen. Das Moor ist ein idealer Lebensraum für Tiere und seltene Pflanzenarten. Ich höre auf meinem einsamen Weg die Moorfrösche quaken, hunderte Libellen kreuzen meinen Weg und einmal flattert eine Sumpfohreule nur wenige Meter über meinen Kopf hinweg. Eine Szene, wie aus einem Harry-Potter-Film. Dieser Ausflug führt mich in eine geheimnisvolle Welt und ich erfahre auf einer Infotafel, warum erhaltene Moore auch klimawichtige Kohlendioxidspeicher und als Landschaftswasserspeicher besonders wertvoll sind. 

Warum machen wir es eigentlich nicht wie die Menschen zwischen Helsinki und Madrid und genießen den Sommer 2022. Gerne auch Mal im Moor… 

So also duftet der Sommer 

Gelb ist die Poesie der Sinnlichkeit. Einmal das Farbenspiel von grünen Bäumen, dunkelblauem Himmel und gelb blühenden Rapsfeldern beobachten, dazu den typischen süßen Duft von Sommer in der Nase, der mich an meine Kindheit mit Sonnenmilch am Strand erinnert. Momente der authentischen Natur-Sinnlichkeit, die wir nie vergessen dürfen.

 Bald finde ich endlich wieder Rapsöl in den leergehamsterten  Supermarktregalen. Denn schließlich ist Deutschland nach Kanada, China und Indien mit 3,5 Mio Tonnen der viertgrößte Rapsproduzent der Welt. Aber leider landet davon nur wenig in den Discounterregalen. Denn mit dem Raps ist es wie mit dem Mais, das meiste der Ernte wird als Bioenergieträger oder Futtermittel genutzt. Dafür treffe ich bei meiner Wanderung immer wieder Imker, die am Rande der Felder ihre Bienenstöcke aufstellen. „Raps ist einer der wichtigsten und ergiebigsten Nektarquellen für meine Honigbienen“, erklärt mir der Herr der Bienen. 

Also raus, spazieren durch die Rapsfelder, wenn heute am „Tag der Arbeit“ woanders demonstriert oder wieder mal randaliert wird. Warum der 1. Mai bei uns ein Feiertag ist, habe ich mal bei einem Lokal-Politiker mit dem schönen Wort „sozial“ im Partei-Namen nachgefragt. Ehrlich, der hatte keine Ahnung. Aber zumindest einmal im Jahr wollte er sich wie seine Berliner Kollegen, dem Volk, also seinen Wählern, inhaltlich nähern. Ach ja, der Feiertag geht übrigens auf den 1. Mai im Jahr 1890 zurück. Da legten über 100.000 Menschen in Deutschland aus Protest ihre Arbeit nieder. 
 Wenn wir nicht bald wieder einen bezahlbaren Alltag bekommen und eine für die Menschen erträgliche Inflationsrate, dann haben wir hier bald weit über 100.000 Menschen, die protestieren. Wie schafft es eigentlich die Schweiz, die trotz Ukraine-Krieg, eine Inflationsrate von 2,4 Prozent hält?

Ich spaziere also weiter durch das Farbenspiel der Natur und halte es mit Gotthold Ephraim Lessing, dem großen Dichter der Aufklärung: „Der Langsamste, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert, geht immer noch schneller als der, der ohne Ziel herumirrt.“

Leckeres vom Landschwein. Das Speisekarten-Framing

Psychologen haben jetzt das sogenannte „Framing“ erforscht und herausgefunden, das wir durch bestimmte Formulierungen beeinflusst werden. Was wir über eine Sache denken, hängt immer mehr vom Kontext ab. In der Werbung und Politik hat das Framing schon lange erfolgreich Einzug gehalten. Alles also eine Frage der Perspektive? 

Wenn ich nach meinen Wandertouren hungrig ein Restaurant besuche, dann lese ich mir aufmerksam die Speisekarte durch. Denn die ist ja sowas wie ein Wahlversprechen (von denen auch nur manche gehalten werden). 

Immer öfter entdecke ich seit einigen Monaten das Wort „Landschwein“. Currywurst vom Landschwein, Schnitzel vom Landschwein, Spießbraten vom Landschwein und und und.

Ehrlich ist mir da was entgangen? Das Berkshire, das Bunte Bentheimer, Duroc, Ibérico oder Wildschwein sind mir bekannte Namen und Rassen. Selbst das Mangalitza, das berühmte Wollschwein aus Ungarn ist mir bekannt. Aber das Landschwein? Ich dachte, alle Schweine kommen vom Land oder habt ihr schon mal ein Stadtschwein probiert. Die Phantasie lässt mir freien Lauf. Ich stelle mir gerade einen Schweinehof (gerne auch BIO) mitten in Hamburgs Nobelstadtteilen Eppendorf, Blankenese oder Ottensen vor. Vielleicht sogar in der HafenCity neben der Elbphilharmonie? 
 Schweineställe neben der KÖ in Düsseldorf, in München Schwabing, Berlin-Mitte hinterm Bundeskanzleramt oder am Ring in Köln. 
 Die neue Landlust hat also über Framing auch den Einzug auf die vornehmlich Speisekarten in Stadtrestaurants genommen. 

Nicht ganz! Bei einer Tour durch Friesland habe ich in einem Dorf einen Fleischer-Fachmann gefragt. Der erzählte mir, dass bis Mitte der 60er Jahre es auch eine Rasse „Deutsches Landschwein“ gab. Eine Kreuzung von Marschlandschweinen mit Yorkshires (nicht die Hunderasse!). Der sehr hohe Fettanteil hat dann aber nicht den deutschen Verbraucherwünschen entsprochen. Oder will die Politik uns jetzt wieder fett füttern, damit wird den nächsten Winter nicht frieren müssen. Und was ist eigentlich mit dem guten alten Wort „Hausschwein“? Denn die eignen vier Wände sind, genau wie die beliebte Landlust der Städter, auch für mich ein Traum. Neulich hat am Nachbartisch einer mit Tom-Ford-Designerbrille etwas von einem „Klima-Schwein“ erzählt. War bestimmt ein Werber oder Politiker…

ZEITREISE IN DAS DORF DER TOLERANZ

Zeitreise zu den MOIN-Menschen

Der Besuch in einem Heidedorf, wenn er nicht an Wochenenden oder in der Blütezeit der Rosa leuchtenden Besenheide ist, macht für mich eine kleine Zeitreise erlebbar. Die Menschen sind norddeutsch kühl, was vielen auf den ersten Blick als unfreundlich erscheint. Unfreundliche Menschen habe ich leider nur in Wilsede bei Undeloh (auch auf Social Media) erlebt. 


Es sind eben diese „Moin-Typen“, Originale authentisch bis in die Haarspitzen. Aber wer freundlich fragt, bekommt immer ein Geschichte erzählt. Meist handelt die aus früheren Zeiten, die viele als eine bessere Zeit beschreiben. Aber das Leben in den Bauerndörfern der Lüneburger Heide war geprägt durch Verzicht, harte Arbeit und menschliche Tragödien. 


 Ich nenne diese Dörfer, wie gesagt ausser Wilsede, für mich „Dörfer der Toleranz“. Sie sind fernab von Zeitgeist und Mainstream, sie lassen mich träumen, als Menschen noch miteinander geredet haben. Ein Stück „Büttenwarder“ ist überall. Und findet man noch einen echten Dorfkrug, dann kommt man hier schnell mit den „Moin-Typen“ ins Gespräch. Die Spaltungen der Gesellschaft wie in den Groß- und Industriestädten scheint an den Dörfern mit den Frühjahrsstürmen vorbeigezogen zu sein. 

Mein persönlicher Dorfgasthof-Tipp ist der „Dorfkrug am Mühlenteich“ in Lüllau zwischen Jesteburg und Buchholz in der Nordheide. Wer Wirt Achim Peters auch in Sommer zu einem heißen Rum-Grog - kein Scherz - einlädt, bekommt Geschichte  und plattdeutsche Sprüche um die Ohren geknallt. Besser als im Hamburger Ohnsorg-Theater, denn hier neben einer historischen Wassermühle ist das Leben real. Die Sitztische sind in der mit Kopfstein gepflasterten Güllegrube aufgebaut, Katzen und Hühner laufen in bester Eintracht zwischen den Beinen der Gäste und manchmal kommen Reiterinnen mit ihren Pferden auf ein schnelles Helles bei Achim vorbei. Beim zweiten „Bullenschluck“ auf’s Haus solltet ihr aber aufhören!


Bauernkriege toben in den Heidedörfern auch schon seit Jahrhunderten über die Ackergrenzen hinweg. Wer weiß das besser als der ehemalige Bauer Achim Peters.

Selbst die zu Fleisch gewordene Corona-Warn App Karl Lauterbach würde man hier freundlich begrüßen und zu einem „Lütt un Lütt“ einladen. Wenn er dann wieder zurück in die Hauptstadt reist, sagen die Menschen im Dorf der Toleranz: „Der Mann ist ein bisschen tüdelig“. Was durchaus freundlich gemeint ist, es bedeutet soviel wie „leicht einfältig und unbeholfen…“

Alles zurück auf Start: Wanderungen und Gedanken in 2022

2022: ALLES ZURÜCK AUF START?

Wandergedanken – alles zurück auf Start

Ich hasse die vier großen A. Alter, Arthritis, Asthma und Adipositas, das Übergewicht ganz besonders, denn ich bekomme es so schlecht wieder runter. Und manchmal wie beispielsweise heute, hasse ich auch das fünfte A. Es steht für Angst, die Beklemmung und Furcht vor der eigenen Wander-Courage, vor dem inneren Schweinehund und dem fehlenden Mut für die erste längere Tour. Das im letzten Jahr erwanderte Selbstvertrauen ist inzwischen wieder auf Erdnussgröße geschrumpft.

Der zweite lange Corona-Winter hat mir wieder einige Kilos mehr auf die Hüften gebracht. Wie schon in meinem Buch „Der Weg ist kein Ziel“ beschrieben, bin ich kein kilometerfressender Hiker, kein Trail-Geher. Ich bin dankbar für jeden Meter und dafür, dass ich in der Natur meinen Gedanken freien Lauf lassen kann.

Das Wetter versetzt mich in Sommer-Euphorie und ich fasse endlich den Mut, mal wieder über 10 Kilometer nach fast sechs Monaten zu wandern. 

Ein Tape am kleinen Zeh und das Blasenpflaster wichtige Utensilien habe ich noch im Kopf von meinen ersten „schmerzlichen“ Touren im letzten Jahr. Also diesmal lieber schon vorher die Füße schützen.  

Also, alles zurück auf Start und los geht’s! Die Strecke ist eine, die ich im letzten Jahr einige Male gelaufen bin, sie führt durch einen geschützten Naturwald, über kleine Anhöhen, vorbei an Feldern und durch Dörfer und Siedlungen am Rande einer Kleinstadt im Norden. Mein erster Gedanke: Was hat sich geändert, was ist geblieben auf dieser Wandergedanken-Tour? 

Bereits nach wenigen Kilometern habe ich Puls und bin kurzatmig, die Kilos verdrängen das kleine Glück aus dem Kopf. Die Freude über die erste blühende Osterglocke, das aus dem Winterschlaf erwachte zwitschern der Vögel, eine tierische Oper in a-Moll und dem ersten hämmern eines Spechts an einer nordischen Kiefer. Kreislauf und Konditionsmangel machen mir zu schaffen. Schweißtropfen laufen mir über das Gesicht, das Herz pocht im Presslufthammertakt. Aber habe ich nicht genau das gewollt? Den Körper wieder spüren, ohne dabei ganz an meine Grenzen zu gehen?

Und dann stellt sich doch das erste Glücksgefühl ein. Eine weiß-braungefleckte Ziege am Weidezaun kommt auf mich zugelaufen und meckert mich an. Dabei denke ich an den Philosophen Emanuel Wertheimer, der einmal sagte: „Dem Glück der Menschen fehlt nur die Genügsamkeit der Tiere.“ Nur wenige Meter weiter wird mir das noch bewusster, als ich vorbei an den Villen an einem Golfplatz spaziere. Die schwarzen und silberfarbene SUV- und Luxuslimousinen vor den Prachthäusern strahlen frischsauber im Sonnenlicht. Manchmal steht daneben für das "gute Gewissen" ein Lastenebike für 5.000 Euro. Da hat sich gegenüber den letzten Jahren nichts geändert. Solange ein Liter Wasser noch weniger kostet, als ein Liter Sonnenblumöl bleibt das sicher auch so in den nächsten Jahren. Denn der Jahrmarkt der Eitelkeiten wird nirgendwo sichtbarer als in den noblen Vororten einer Großstadt mit astronomisch hohen Grundstücks- und Immobilienpreisen. 

Trinkpause vor einer Reetdachvilla. Dazu fällt mir ein weiteres Zitat ein. Diesmal vom österreichischen Dramatiker Arthur Schnitzler: „Welch ein gefräßiges Tier ist doch die Eitelkeit! Sie nährt sich sowohl von Erfolg als von Misserfolg, von Glück wie Unglück, von Liebe wie von Hass, ja zur Not versteht sie es auch, von ihrem eigenen Fett zu leben und wird immer noch fetter dabei.“

Wie passend in dieser Zeit. Nur wenige Meter weiter beschneidet ein Arbeiter aus einem Billiglohnland die gewucherten Zweige in einer Baumschule. Was für ein Gegensatz auf ein paar Metern Wandertour?




Ich tauche ein in den Wald und ein vergessener Geruch explodiert in meiner Nase. Baumharz gemischt mit Kiefernduft und einer großen Portion frischem Sauerstoff – mein emotionales Leibgericht wird mir nach sechs Monaten wieder kostenlos serviert. 
Die Wadenmuskulatur brennt, die Knie fangen an zu schmerzen. Aber der Schock im Wald ist dann plötzlich doch größer. Vor einigen Wochen ist hier ein Orkan durchgegangen und hat hunderte Bäume entwurzelt, meterdicke Kiefern wie Streichhölzer umkippen und sterben lassen. Die Erdballen der Flachwurzler stehen senkrecht zu hunderten in den Himmel. BAUMFRIEDHOF fällt mir dabei sofort ein.
Natürlich sind die dicken Baumstämme auch über den Wanderweg gestürzt und blockieren mein Fortkommen. Ich klettere über Baumkronen und Wurzelballen, versuche die vom Sturm umgerissenen Bäume, zu umgehen. Es fällt mir auch körperlich sehr schwer und irgendwie habe ich das Gefühl, ich klettere hier gerade über Baumgräber. Am Ende treffe ich einen Mann, der mit seinem Sheltie, einem Miniaturcollie, gerade Gassi geht.

„Die Bäume liegen nun schon seit fünf Wochen hier, das hätten die auch schon wegräumen können“ ärgert er sich. Sein Hund guckt erst ihn und dann mich fragend an. 

„Die arbeiten wahrscheinlich zwischenzeitlich in einem Impfzentrum und verdienen dabei viel mehr, als hier im Wald“, antworte ich ihm. Hätte er mein Buch gelesen und das Kapitel, „Was wir von Bäumen lernen können“, hätte er wahrscheinlich anders reagiert. 

Am Waldrand führt mich mein Weg durch ein Dorf. Die Straßen sind wie immer menschenleer. Aber irgendwas ist hier doch anders als in den letzten zwei Jahren? Richtig. Die Fahnenmasten vor den Häusern und Höfen. Statt HSV-, Werder oder FC. St. Pauli-Flagge ist hier jetzt die blau-gelbe Flagge der Ukraine gehisst. Als Zeichen der Solidarität veranstaltet die Kita „Die Marienkäfer“ einen Flohmarkt und sammelt Spenden für die Ukraine, lese ich auf einem selbstgemalten Plakat in bunter Kinderschrift.

Neben dem Sportplatz spielen ein paar Rentner Boule oder Boccia, den beliebten Kugelsport aus Südfrankreich. Sie laden mich als Fremden ein, eine Runde mitzuspielen – ganz ohne FFP2-Maske. Hier scheinen die Hiobsmeldungen der zu Fleisch gewordenen Corona-Warn-App Karl Lauterbach an Präsenz verloren zu haben. Ach wie gerne würde ich mich auf ein Glas Pastis dazu gesellen und ihre Erlebnisse aus den letzten 26 Coronamonaten hören. Aber ich habe noch einige Kilometer vor mir, bin nassgeschwitzt und freu mich trotzdem sehr über diese Einladung, denn hier ist die gesellschaftliche Spaltung und das „Cocooning“, wie das Einigeln neudeutsch genannt wird, noch kein Thema. 

Vorbei an zwei großen Feldern geht es zurück zum Ausgangspunkt an einer Bushaltestelle. Ein Bauer pflügt und düngt seine Felder. Gerne hätte ich ihn gefragt, was er zu den explodierenden Rohstoffpreisen sagt und wie viel davon wirklich bei ihm hier ankommt. Am Ende schmerzen die Füße, meine Trinkwasserflasche ist leer, mein Kopf auch. 

Aber am Abend bei einer Flasche Bier kommt dann doch das große Glück zurück. Das fünfte A ist besiegt – die Angst vor der Entschlossenheit auch. Weiterwandern im dritten Coronajahr und  dem nach  Minister Lauterbach’s Aussage „das schlimmste und gefährlichste aller Zeiten…"  Dann werden meine Wandergedanken auch den Muskelkater und die schlechten Nachrichten von morgen vertreiben…